Ein Geschwisterchen kommtVOM UMGAMG MIT LIEBE UND EIFERSUCHT

„Kein Mensch schafft es, das Zentrum zu sein, um das sich die Welt dreht!“ schreibt Anna Wahlgren, neunfache Mutter und populäre schwedische Kinderexpertin in ihrem Werk „Das Kinderbuch“. Einzelkinder können mitunter genau in dieser Situation sein, das Zentrum sein zu müssen, auf das alle Liebe und Freude, die Hoffnungen und Erwartungen der Eltern, vielleicht auch Großeltern, der gesamten Familie projiziert werden. Was für ein Druck! Daher ist es ein großes Geschenk, wenn es noch jemand anderen gibt, der dieselben Wurzeln hat, einen Spielgefährten, einen Leidensgenossen, einen Rivalen und Verbündeten, alles in einem. Einen Menschen, der dieselben Kindheitserinnerungen teilt und dieselben Erfahrungen mit den Eltern gemacht hat. Leider gibt es viele Geschwister, die sich gar nicht gut verstehen, die auch im Erwachsenenalter keinen Weg zu einander gefunden haben. Vielleicht lief von Anfang an was schief – wie bei Sarah?

Sarahs Geschichte I

Oma war letzte Woche zu Besuch. Sie hat Sarah gefragt, ob sie sich schon darauf freut, wenn ihr Geschwisterchen endlich da ist. Pflichtbeflissen hat Sarah genickt. Aber eigentlich freut Sarah sich gar nicht. Seit die Eltern ihr erzählt haben, dass in Mamas Bauch ein Baby wächst, ist Mama ständig müde. Mama erklärt Sarah, dass es eben anstrengend ist, schwanger zu sein. Weil ihr oft schlecht ist, hat sie nicht mehr so viel Lust mit Sarah zu spielen oder aus dem Haus zu gehen. Das liegt, so Mama, am Baby. Auch trägt Mama Sarah nicht mehr so oft wie früher, weil das für das Baby schlecht ist. Und außerdem ist mittlerweile Mamas Bauch so groß, dass er Sarah beim Kuscheln im Weg ist. Draufsetzen darf sie sich schon gar nicht, denn – richtig: das könnte dem Baby schaden! Bald wird es da sein, aber Sarah weiß schon, dass sie noch lange nicht richtig mit ihm spielen können wird, erst wenn es größer ist. Außerdem muss sie dann Mama und Papa mit dem Baby teilen. Wenn es schläft, muss sie leise sein und ihre Spielsachen muss sie herborgen – wie wird das sein, wenn man so viel „muss“? Sarah kennt das Wort „Eindringling“ noch nicht, aber sie spürt seine Bedeutung. Sie wollte das Baby nicht, sie hat nicht darum gebeten eines zu bekommen, jetzt wächst es in Mamas Bauch und alle erwarten, dass sie, Sarah, darüber glücklich ist.

Ein paar Tage später ist es so weit. Mama steht gerade in der Küche und macht Mittagessen, Sarah spielt in ihrer Nähe. Auf einmal wird Mamas Kleidung ganz nass. Hat sie Lulu in die Hose gemacht? Große Leute gehen doch aufs Klo! Mama erklärt Sarah, dass das Baby nun bald kommen wird. Sie ruft Tante Anna an und bittet sie, herzukommen und Sarah abzuholen. Schon nach einer Viertelstunde ist sie da und nimmt Sarah mit zu sich, um in den nächsten Tagen auf sie aufzupassen. Wie lange sie dort bleiben wird, weiß Sarah nicht. Sie weiß auch nicht, was jetzt mit Mama passiert. Aber Mama hat so ausgesehen, als täte ihr etwas weh. Sarah macht sich furchtbare Sorgen, sie hat so große Angst um Mama.

Am nächsten Tag holt Papa Sarah von Tante Anna ab und fährt mit ihr ins Spital, dort kann sie das Baby kennenlernen. Sarah möchte viel lieber ins Spital, um Mama zu sehen und nicht das Baby. Als sie ins Zimmer kommen und zum Bett gehen, sieht Sarah zu allererst den Kopf des Babys, es liegt an Mamas Brust. Sarah möchte Mama umarmen, aber das geht jetzt nicht, weil sie es nicht beim Trinken stören soll. Deshalb streichelt Mama ihr zur Begrüßung nur schnell über den Kopf. Sarah möchte so gerne bei Mama bleiben. Das Baby ist doch auch bei ihr! Papa erklärt ihr jedoch, dass er sie jetzt zu Tante Anna zurückbringt, Mama und das Baby dürften ohnehin morgen schon das Spital verlassen. Trotzdem ist Sarah enttäuscht.

Am nächsten Tag bringt Tante Anna Sarah zurück nach Hause. Als sie in die Wohnung kommen ist das Baby schon da. Es liegt und schläft im Gitterbett in Sarahs Zimmer. Naja – im ehemaligen Sarah-Zimmer, denn ab heute teilen sich die beiden Kinder den Raum. Sarah ist abermals enttäuscht. Sie dachte, sie könnte dem Baby die Wohnung zeigen.

Tags darauf kommt Oma, auch sie will das Baby kennenlernen. Als Mama die Türe öffnet, stürzt sie herein, ganz begierig ihr neues Enkelkind zu begrüßen. Nach einem raschen: “Grüß Dich Sarah!“, eilt sie an ihrer Enkelin vorbei, schnell dem Baby entgegen. Ein weiteres Mal ist Sarah enttäuscht. 

Je mehr Aufmerksamkeit, desto mehr Liebe

So wie die meisten Kinder in Sarahs Alter setzt sie Aufmerksamkeit mit Liebe gleich. Natürlich ist das nicht richtig, aber Kinder empfinden es subjektiv so. Seit der Ankunft des Babys, eigentlich schon davor, bekommt es viel mehr Beachtung als Sarah. Sarah fühlt sich zurückgesetzt und traurig. Nicht nur, dass sie den Eindruck hat, Mama und Papa hätten sie nicht mehr so lieb wie früher, sie sieht auch weniger von Mama. Die hat ständig das Baby am Arm. Aus Sarahs Perspektive verdeckt Babys Kopf Mamas Gesicht oder zumindest Teile davon. Das macht Sarah unsicher, denn sie kann in Mamas Augen nicht mehr so gut lesen wie früher und ihre Mimik nicht mehr gut erkennen. Sarah fühlt sich ausgeschlossen. Sie möchte wieder mehr Mama haben! Sie möchte, dass alles so ist wie früher, als das Baby noch nicht da war! Sie nutzt jede Gelegenheit, sich zwischen Mama und das Baby zu drängen. Sie ist laut, sie macht absichtlich Dinge, die sie nicht soll. Sie nimmt dem Baby die Rassel weg, sie zwickt es, wenn es schläft. Sarah opponiert wann immer sie kann, ganz egal wobei. Es ist ihr dabei gleichgültig, ob Mama schimpft, Hauptsache ist, Sarah wird wieder beachtet.

Sarah bekommt auf diese Art Aufmerksamkeit, es ist aber nicht dieselbe wie früher. Mama ermahnt und tadelt sie oft. Letztens hat Sarah gehört, wie sie sich bei Tante Anna darüber beklagt hat, wie schwierig ihre Große geworden ist und wie eifersüchtig sie sei. Sarah weiß nicht, was Mama damit meint, sie kennt das Wort „Eifersucht“ noch nicht. Aber sie spürt, dass sie ein ganz starkes Bedürfnis hat, um die Liebe ihrer Mama und ihres Papas zu kämpfen, das lässt sie sich nicht so einfach von dem Baby wegnehmen! Je öfter die Eltern schimpfen, desto aufsässiger wird Sarah, desto auffälliger und renitenter ihr Verhalten. Ihre Wut richtet sich meistens gegen Mama, dafür wendet sie sich immer mehr Papa zu. Wenn Mama jetzt nur mehr das Baby lieb hat, dann zeigt Sarah ihr eben deutlich, dass sie sie nicht braucht, sie hat ja noch Papa, der mit ihr spielt und schmust!

Viele Kinder reagieren wie Sarah, sie fühlen sich zurückgestellt, ausgeschlossen und weniger geliebt, sobald das Baby da ist. Bei Sarah ist manches „schief gelaufen“, obwohl nichts davon mit Absicht geschehen ist. Je nachdem welches Temperament das ältere Geschwisterkind hat, gibt es viele Möglichkeiten zu reagieren, von Aggression gegen die Eltern oder das Baby bis hin zu nach innen gerichteter stiller Trauer. Manche Kinder sind von der Ankunft des Geschwisterchens scheinbar nicht betroffen, sie wirken nicht traurig, sie sind auch nicht aggressiv, aber sie fallen in ein kindlicheres Verhalten zurück, das sie schon vor Wochen abgelegt haben. So fordern sie beispielsweise wieder ein Fläschchen in der Nacht, das sie schon seit Monaten nicht mehr getrunken haben oder sie verlangen wieder nach einem Schnuller, den sie sich längst abgewöhnt haben. Fachleute nennen das „Regredieren“.

Natürlich gibt es Kinder, die sich ehrlich auf ihr Geschwisterchen freuen und in keiner Weise Anzeichen von Eifersucht zeigen. All jene Kinder allerdings, die im Zusammenhang mit der Ankunft eines Bruders oder einer Schwester ihr Verhalten merkbar ändern, brauchen viel Zuwendung von den Eltern und die Versicherung, lieb gehabt zu werden, genauso lieb wie früher und genauso lieb wie das Baby.

Schon vor der Geburt können Eltern ihrem Kind durch ihr Verhalten Sicherheit vermitteln und Aggressionen gegen das neue Familienmitglied vermeiden. Verständlicher Weise können viele Schwangere mit zunehmendem Bauchumfang ihr Erstgeborenes nicht mehr heben und tragen. Möglicherweise empfindet das Kind das als Zurückweisung. Diese ist für das Kind allerdings leichter zu verstehen, wenn der Grund dafür nicht der Bauch oder das Baby darin ist, sondern beispielsweise Mamas schmerzender Rücken. Kinder verstehen schon sehr früh sehr viel, manches aber auf ihre eigene, eben sehr kindliche Art. Das ist auch ihr gutes Recht. Wird immer wieder das Ungeborene dafür „verantwortlich“ gemacht, dass Mama dieses oder jenes nicht mehr tun kann, ist das der Zuneigung zwischen den Geschwistern nicht förderlich.

Altersgerecht verpackt und in einfachen Worten erklärt, kann man Kindern durchaus schon Wahrheit zumuten. Hätte Mama Sarah darauf vorbereitet, dass sie ein, zwei Tage bei Tante Anna sein wird, hätte Sarah sich vielleicht sogar auf den Besuch bei ihr gefreut – eine willkommene Abwechslung. Für Sarah kam das Abholen bzw. Wegholen von zu Hause sehr unerwartet. Mit ihrer Angst um Mama und die Unwissenheit, ob es ihr nun schlecht geht, ob ihr etwas weh tut, ob sie vielleicht sterben wird, war Sarah alleine. Diese Bedenken hätte Mama ihr erleichtern können, wenn sie ihr erklärt hätte, dass es nun einmal „ein bisschen“ weh tut, wenn ein Baby auf die Welt kommt, dass das aber ganz normal ist und kein Grund zur Sorge.

Auch wenn es bei Tante Anna immer recht schön ist, hätte Sarah sich gewünscht, zu Hause bleiben zu dürfen, an dem Ort wohin sie gehört umgeben von ihren Sachen aber auch von den Dingen, die Mama jeden Tag benutzt, die vielleicht sogar nach Mama riechen und die Sarah mit ihr verbindet.

Sarahs Geschichte II

Der erste Kontakt im Spital zwischen Sarah und ihrem Geschwisterchen war nicht optimal. Hätte Mama das Baby nur wenige Minuten vor Sarahs Ankunft in das Babyzimmer geführt, wo es von den Säuglingsschwestern kurze Zeit betreut worden wäre, hätte Sarah Mama ein bisschen für sich alleine gehabt und in Ruhe begrüßen und mit ihr kuscheln können. Alles wäre so gewesen wie immer. Sarah hätte von der lustigen Nacht bei Tante Anna erzählt und Mama hätte dann Zeit und Gelegenheit gehabt auf ihren verhältnismäßig flachen Bauch hinzuweisen. Das bedeutete natürlich, dass das Baby jetzt da war. Sarah wäre neugierig geworden und hätte es sehen wollen, vielleicht selbst aus dem Säuglingszimmer holen und so symbolisch in die Familie hineinbringen, in die Gemeinschaft aufnehmen wollen.

Auch die Begrüßung zu Hause hätte sich Sarah anders vorgestellt. Irgendwie hat sie erwartet gemeinsam mit Tante Anna die Wohnung vorzubereiten. Sie hätten wie im Fasching Girlanden aufhängen können und Luftschlangen für das Baby und einen schönen Blumenstrauß für Mama auf den Tisch gestellt. Dann hätten sie auf Mama, Papa und das Baby gewartet. Sarah hätte beim Läuten die Türe aufgemacht und Mama hätte das Baby hereingebracht. Sie hätten im Wohnzimmer sitzen können, Kakao trinken und Sarah hätte ihr Geschwisterchen angreifen, streicheln und gemeinsam mit Mama ein wenig halten dürfen. So oder zumindest so ähnlich hat Sarah sich den Empfang vorgestellt. Was für einen Unterschied hätte das gemacht!

Und Oma? Sarah hatte das Gefühl, dass Oma gar kein Interesse mehr an ihr hat. Als Sarahs Kindergartenfreundin Leonie einen Bruder bekam, war das alles ganz anders. Leonies Oma kam zu Besuch, sie begrüßte Leonie überschwänglich und feierte sie als frischgebackene große Schwester. Dann ließ sie sich von Leonie „ihr“ Baby zeigen. Stolz präsentierte sie es Oma natürlich mit Vergnügen und kam sich ausgesprochen wichtig dabei vor! Leonie störte es gar nicht, dass das Baby so viel Aufmerksamkeit bekam, denn sie bekam mindestens genau so viel in ihrer neuen Rolle als große Schwester.

Die Aufnahme in die Gemeinschaft

Die beiden Varianten vom ersten Aufeinandertreffen von Sarah und ihrem Geschwisterchen machen deutlich, dass das Kennenlernen und Aneinander-Gewöhnen ein sehr sensibler Prozess ist. Wenn Eltern sich zu Beginn empathisch in das ältere Kind einfühlen, müssen viele der beschriebenen, negativen Reaktionen nicht sein. Im Gegenteil: das Neugeborene wird von seinem großen Bruder oder seiner großen Schwester wahrscheinlich willkommen aufgenommen, wie junge Wölfe im Rudel, denn im Grunde ist die menschliche Sozialstruktur der von Tieren, die in Rudeln oder Herden leben, nicht unähnlich.

Eltern, denen es schwer fällt, sich in die Perspektive ihres Kindes hineinzudenken, denen empfehle ich, ihm eine einfache Digitalkamera in die Hand zu geben mit der Aufforderung, alles zu fotografieren, was es möchte – ganz egal was – und die Fotos anschließend genau zu betrachten. Sehr häufig wird Mama das Zielobjekt sein und sehr häufig wird auf den Fotos Mamas Gesicht nicht zu erkennen sein, weil das kleine Geschwisterchen in ihrem Arm den Blick auf Mamas Augen oder Mund verdeckt. Um dem Kind zu ermöglichen, Mamas Mimik zu sehen, die für die Kommunikation von so großer Bedeutung ist, können viele Aktivitäten gemeinsam auf dem Fußboden stattfinden. Nicht nur spielen, sondern auch vorlesen, wickeln, stillen, vieles kann in einer Kuschelecke im Wohn- oder Kinderzimmer passieren, die eigens für die Geschwister nach der Geburt eingerichtet wird. 

Manche Eltern meinen, wenn sie für das erste Zusammentreffen zwischen den Kindern Geschenke besorgen, würde das die Liebe und Akzeptanz zwischen den Geschwistern fördern. Sollten Eltern davon überzeugt sein, dass solche Gesten der gegenseitigen Akzeptanz förderlich sind, möchte ich niemanden davon abbringen. Meiner persönlichen Meinung nach gibt es keinen pädagogischen Nutzen durch solche Geschenke. Der größte Wert liegt in der Tatsache selbst, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Wenn es den Eltern gelingt, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich eine gesunde, wertschätzende Geschwisterliebe mit allen dazugehörenden Höhen und Tiefen auf natürlicher Basis entwickeln kann, braucht es keine materiellen Dinge, um einander gern zu haben.

Autorin: Simone Kostka-Krytinar, BA