Rituale rund um die GeburtDas Wunder des Lebens feiern

Sarah wird bald zum ersten Mal Mutter. In wenigen Wochen wird sie ihr Kind zur Welt bringen. Und heute stimmt sie sich auf dieses Ereignis ein. Gemeinsam mit ihren Freundinnen und einigen ihrer weiblichen Verwandten feiert sie eine Blessingway-Zeremonie. Die Organisation und Vorbereitung hat sie ihrer Doula überlassen, denn an diesem Tag soll Sarah sich ganz entspannen und vor allem verwöhnen lassen können. Sie sitzt mit ihrem mittlerweile kugelrunden Bauch im Kreis der Frauen, ist mit einem Blumenkranz wie eine Königin geschmückt und fühlt sich auch ein bisschen wie eine, denn heute ist sie es, die im Mittelpunkt steht, ihr gilt die ganze Aufmerksamkeit. Die Frauen lachen und scherzen, träumen, singen und Geschichten werden erzählt. In unterschiedlichen kleinen Ritualen kann Sarah sich von der Schwangerschaft verabschieden und auf die bevorstehende Geburt einstimmen. Die anwesenden Frauen stärken die werdende Mutter und geben ihr ganz viel Kraft für dieses besondere Ereignis. Gute Wünsche und Segenssprüche werden ausgesprochen, kleine Kraftgegenstände überreicht. So gestärkt kann Sarah die letzten Tage und Wochen bis zur Geburt noch richtig genießen.

Rituale geben Sicherheit

Diese und ähnliche Rituale rund um die Geburt finden in den letzten Jahren immer mehr Anhängerinnen. Dabei handelt es sich bei diesen Geburtsriten eigentlich gar nicht um eine besonders neumodische Sache. Rituale an Lebensübergängen sind nicht nur weltweit zu finden, sondern waren auch zu allen Zeiten in der Menschheitsgeschichte weit verbreitet. Sie vermitteln den Menschen in einer unsicheren Lebenssituation Stabilität und Sicherheit. Schwangerschaft und Geburt sind ganz zentrale Elemente im Laufe eines Menschenlebens. Und so stellt auch die Zeit rund um die Geburt einen Übergang von einem Lebensabschnitt in einen neuen dar. Aus der Frau wird eine Mutter, aus dem Mann wird ein Vater und aus dem Paar wird eine Familie. Diese Veränderungen stellen eine große Herausforderung dar. Das ganze bisherige Leben ändert sich und eine neue Stellung innerhalb der Gesellschaft mit neuen Herausforderungen und Aufgaben wartet auf das junge Paar. Und auch heute noch, trotz allem medizinischen Fortschritt und aller wissenschaftlichen Aufgeklärtheit, kann das bei den werdenden Eltern zu einem Zustand der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit führen. Die vielseitigen Veränderungen, die der Körper der Frau während der Schwangerschaft durchmacht, die kraftvolle und einschneidende Erfahrung der Geburt und das neue Leben mit dem Baby können mit passenden Ritualen begleitet werden, um das spürbar und annehmbar zu machen, was sonst so unbegreiflich ist: Das Wunder des Lebens!

Das Wunder des Lebens

Sarah hat sich vorgenommen, dieses Wunder des Lebens gebührend zu feiern. Darum begleitet sie auch die eigentliche Geburt ihres Kindes rituell. Dazu hat sie sich einige Gegenstände ausgesucht, die ihr besonders viel Kraft vermitteln. Diese hat sie zur Geburt mitgebracht. An der bunten Perlenkette, die die Frauen bei der Blessingway-Zeremonie für sie aufgefädelt haben, bleibt ihr Blick während der Geburtsarbeit immer wieder hängen. Mit jeder aufgefädelten Perle wurde von einer der Frauen ein spezieller Wunsch für Sarah und das Baby, ein Wunsch für die Geburt, ausgesprochen. Daran denkt Sarah nun immer wieder. Und sie erinnert sich an die Kraft, die sie während der Blessingway-Zeremonie tanken durfte. Sarah geht bei dieser Geburt bis an ihre körperlichen und psychischen Grenzen, aber sie ist sich ihrer Kraft und Stärke bewusst und schafft es. Sie wird mit einem wunderhübschen und gesunden Baby für ihre Anstrengungen belohnt. Dieser Geburtstag ihres ersten Kindes wird für Sarah und ihre neue, kleine Familie zu einem Fest. Mit einem Segenspruch und einem bereits im Vorfeld ausgesuchten Lied wird das neugeborene Kind in dieser Welt begrüßt. Die vorbereitete Geburtstagtorte wird mit allen bei der Geburt anwesenden Personen verspeist. Und obwohl Sarah erschöpft ist, ist sie auch überaus glücklich, ihr so lange erwartetes Baby endlich im Arm zu halten und kennenlernen zu dürfen. Sie ist aufgeregt und gespannt, was das Leben als Mutter für sie an Herausforderungen und Überraschungen bereithalten wird.

Rituale sind vielfältig

Viele Menschen haben beim Wort „Ritual“ die Vorstellung von etwas Großem, Pompösem. Oft sind es aber die kleinen Gesten, kleine, bewusst überlegte Handlungen, die aus einer alltäglichen Situation ein Ritual mit großer Wirkung machen. Dazu braucht es oft nicht viel. Wird ein größeres oder kleineres Ritual rund um die Geburt eines Kindes geplant, dann hat es sich aber bewährt, bereits im Vorfeld einig Dinge zu beachten und zu organisieren. So stellt sich beispielsweise die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für die Feierlichkeit. Ein passenden Ort muss gewählt und eine Gästeliste muss erstellt werden. Form und Ablauf des Rituals müssen überlegt werden. Außerdem sollte darüber nachgedacht werden, wer die Ritualleitung übernehmen soll. Prinzipiell spricht nichts dagegen, wenn improvisiert wird. Nicht die Einhaltung starrer Regeln belebt ein Ritual, sondern das Herzblut und die Leidenschaft, die investiert werden, machen aus einer einfachen Handlung ein wirkungsvolles Ritual. Es spricht allerdings einiges dafür, für die Organisation und Durchführung eines größeren Rituals wie beispielsweise einer Blessingway-Zeremonie oder auch einer Willkommensfeier für das Kind, eine Person zu engagieren, die Erfahrung auf diesem Gebiet hat. Die Eltern können von diesem Erfahrungsschatz profitieren, sind außerdem von der Verantwortung der Ritualleitung enthoben und können sich ganz auf das Geschehen einlassen.

Ein Willkommensfest fürs Baby

Auch Sarah hat sich Unterstützung geholt, um ein Willkommensfest für ihr Baby zu organisieren. Eine kirchliche Taufe ist für Sarah keine Option, trotzdem hat sie das Bedürfnis ihr Kind im Kreis von Familie und Freunden im Leben willkommen zu heißen. Darum treffen sich alle an einem warmen und sonnigen Tag im Garten der Familie. Unter einem blühenden Obstbaum versammeln sich alle im Kreis, das neugeborene Kind und die frischgebackenen Eltern werden in die Mitte genommen. Nachdem sich die Eltern für die komplikationslose Geburt und das wundervolle Geschenk des Lebens in Form ihres Kindes bedankt haben, wird das Kind symbolisch einer Patin übergeben. Sarah und ihr Partner haben sich ganz genau überlegt, wen sie mit dieser Aufgabe betrauen möchten, denn für sie ist es wichtig, dass das Kind unabhängig von den Eltern eine Ansprechperson hat, die sich ihm verpflichtet fühlt und dieses Kind gemeinsam mit ihnen durchs Leben begleiten wird. Die Patin liest einen Text vor, den sie für das Kind geschrieben hat und in dem sie sich bereit erklärt, diese verantwortungsvolle Aufgabe mit Freude und Liebe annehmen zu wollen. Von den Großeltern wird eine Lebenskerze entzündet. Diese wird das Kind durchs Leben begleiten, wird bei Geburtstagen und zu besonderen Anlässen entzündet werden. Die Ritualleiterin übernimmt dann die Segnung des Kindes und alle anwesenden Gäste sprechen Wünsche aus, die sie dem Kind auf seinem Lebensweg mitgeben möchten. Damit diese auch später noch greifbar sind, werden die Wünsche auf Zettelchen notiert und in einer kleinen Schatzkiste an die Eltern übergeben. Nach dem rituellen Teil wird bei einem gemeinsamen Essen im Garten noch lange geplaudert, gelacht und gefeiert!

Sarah hat rund um die Geburt ihres Kindes die kraftvolle Wirkung von Ritualen kennengelernt. Natürlich gibt es noch viele andere Möglichkeiten und unterschiedliche Varianten um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett rituell zu begleiten. Geburtsrituale sind bestens dazu geeignet, diesen besonderen Aspekt im Leben hervorzuheben und zu feiern. Die neuen Erfahrungen können so in den Alltag integriert werden und die Stärkung, die in einer Gruppe stattfinden kann, gibt möglicherweise in schwierigen Zeiten Halt und Kraft. Das Leben bietet für eine Familie viele Gelegenheiten, um kleinere und größere Rituale ins Familienleben zu integrieren und den Alltag etwas zu verzaubern. Lässt man sich auf dieses Abenteuer ein, kann das ungemein bewegend und inspirierend sein.

Buchtipp

Theoretisches Wissen und viele anschauliche Beispiele und Inspiration für eine große Zahl von Ritualen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbettzeit, die leicht umgesetzt und individuell gestaltet werden können, bietet das im letzten Jahr erschienene Buch „Lebensreise – Lebenskreise. Rituale und Bräuche rund um die Geburt“. Ergänzt werden die einzelnen Kapitel durch ethnologische Fenster in Form von Anmerkungen und Beschreibungen darüber, wie Geburtsriten anderswo zelebriert werden. Ich habe das Buch gemeinsam mit meiner Freundin Marion Strohmaier geschrieben, um (werdende) Eltern zu unterstützen und sie darin zu motivieren, selbst aktiv und kreativ zu werden, um diese besondere Zeit im Leben einer Familie rituell zu begleiten und das neue Leben zu feiern.

Mag.ͣ Doris Moser

Kultur- und Sozialanthropologin, Autorin und zweifache Mama

www.rotemondin.com