Ammenmärchen 2.0VOLKSWEISHEITEN AUFGEKLÄRT

Was stärkt eigentlich die Lungen? Neulich musste ich lange auf die Straßenbahn warten. Und weil mir langweilig war, habe ich begonnen die Leute rund um mich zu beobachten und ihnen zuzuhören. Ein Gespräch zwischen einer frisch gebackenen Mutter samt Baby – einem Mädchen wie sich später herausstellte – und einer reiferen Dame, hat meine Aufmerksamkeit erregt.

Das Baby war offenbar unfroh. Welche Umstände dazu geführt haben, konnte ich leider nicht herausfinden, auch wenn es mich brennend interessiert hätte. Offensichtlich war jedenfalls, dass sich die junge Mutter nach Leibeskräften darum bemühte, ihr Kind zu beruhigen. „Wenn du sie immer so verzärtelst wird sie dir in ein paar Monaten nur noch auf der Nase herumtanzen!“, war der erste Kommentar, den ich aufschnappen konnte. Interessante Einstellung …

Leider konnte ich nicht hören was die Mutter antwortete, sie sprach deutlich leiser als die ältere Dame. Ihrer Mimik nach zu urteilen, war es eher eine zaghafte Erklärung als ein Widerspruch. Sie begann mit dem Baby im Arm die Straßenbahnhaltestelle entlang zu gehen, auf und ab, auf und ab, in der Hoffnung, dass das Gehen der Kleinen gefallen würde. Aber diese war von Mamas Bemühungen sichtlich unbeeindruckt; ihr Weinen wurde lauter.

Leises Singen, Schaukelbewegungen, -Mamas kleiner Finger im Mund, die Babyrassel … nichts half. Verzweifelt schaute die Mutter auf die Uhr, scheinbar rechnete sie gerade aus, wie lange die letzte Babymahlzeit her war.

Nachdem die Straßenbahn noch immer nicht zu sehen war, begann die junge Frau im Freien, bei verhältnismäßig kaltem Wetter und von jeder Menge Fremder umringt, ihre Bluse aufzuknöpfen.

Sichtlich missbilligend empörte sich ihre ältere Begleitung: „Du wirst doch nicht hier in aller Öffentlichkeit stillen wollen! Das letzte Mal ist keine zwei Stunden her, sie kann ja nicht schon wieder hungrig sein! Vier Stunden wird sie wohl durchhalten! Daran musst Du sie eben gewöhnen. Natürlich verlangt sie die Brust so oft, wenn Du sie ihr jedes Mal gibst. Dann lässt du sie halt mal weinen, das bisserl Schreien schadet ihr gar nicht! Das stärkt ihre Lungen!“

Man konnte der Mutter auf einen Blick ansehen, wie sie hin und her gerissen war – von dem Weinen ihrer Tochter einerseits und dem Gekeife ihrer Begleiterin auf der anderen Seite. Der Mutterinstinkt siegte: sie zog sich mit sichtlichem Unbehagen in eine Ecke des ohnehin durchsichtigen Glashäuschens der Straßenbahnhaltestelle zurück und stillte die Kleine dort so gut es eben ging.

Von Volksweisheiten und Ammenmärchen

Ich war immer schon der Meinung, dass diese Volksweisheit – das Schreien der Babys hätte etwas mit ihrer Lungenkapazität zu tun – absoluter Humbug sei. Weil mich der Gedanke an die verzwickte Lage der Mutter irgendwie nicht losließ, und ich der Meinung bin, dass sich jeden Tag in jeder Stadt unzählige Mütter in einer solchen oder ähnlichen Situation befinden und nicht wissen, wie sie sich herauswinden können, habe ich – zu Hause angekommen – die Frage „Was stärkt die Lungen?“ gegoogelt. Über den wissenschaftlichen Wert der Ergebnisse lässt sich zwar streiten, aber ich muss zugeben, manche Ratschläge sind schlüssig: das Ausdauertraining, die Bewegung an der frischen Luft oder die gezielte Stärkung der Atemmuskulatur finde ich naheliegend.

Auf Men’s Health – auch dort kann man Informationen über die Lungenkapazität finden – stand, dass zweimal wöchentliches Stretching der Lunge gut tut, ganz besonders die 6. Stellung des Ashtanga-Yoga.

Das American Journal of Medicine empfiehlt, dass man mit heißem Dampf oder durch Saunagänge die Lunge von schädlichen Bakterien befreit, die sich dort eingenistet haben könnten und dadurch das Atmen erschweren.

Die American Lung Association wiederum rät zum täglichen Genuss von mindestens 20 Gramm Fischöl, da sich der hohe Omega3 Anteil positiv auf die Lungenfunktion auswirken soll.

Nicht unangenehm finde ich die Aufforderung der Thorax-Gesellschaft in Atlanta, die zu ein bis drei Gläsern Weißwein pro Tag rät, um die Lunge zu stärken.

Ich gebe zu, dass weder die 6. Ashtanga-Yoga-Stellung noch der Weißwein oder die Saunagänge für Babys zu empfehlen sind. Aber genauso wie diese Tipps für Kleinkinder schädlich sind, ist es nicht empfohlen ein Baby schreien zu lassen. Ihr Weinen bewirkt sehr, sehr viel, aber stärkere Lungen mit Sicherheit nicht!

Uns hat es ja auch nicht geschadet, oder?

Es gibt Mütter, die sich ähnlich wie jene an der Straßenbahnstation verhalten, indem sie versuchen einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen ihres Kindes und den ach so wohlgemeinten Ratschlägen einer „erfahrenen Mutter“ zu finden. Andere wiederum sagen rundheraus, dass es niemanden etwas anginge, wie sie ihr Baby erziehen – womit sie ja prinzipiell Recht haben. Auf welche Weise auch immer Eltern versuchen, ihr Verhalten als Mutter oder Vater zu rechtfertigen, der letzte Trumpf im Ärmel ihrer Kritikerin oder ihres Kritikers ist noch immer ein hämisches, im richtigen Moment eingesetztes, „Uns hat es ja auch nicht geschadet“. Was will man darauf sagen?

Aber können jene, die das so vehement vertreten, wirklich sicher sein?

Bis in die 80iger Jahre des vorherigen Jahrhunderts hat man Neugeborene ohne Narkose operiert, weil man der Meinung war, sie würden noch keine Schmerzen empfinden. Gott sei Dank weiß man es heute besser. In diesem Punkt käme niemand auf die Idee zu sagen: „Es hat ihnen ja nicht geschadet!“

Und wie sieht das in der Erziehung aus?

Bis heute halten sich zum Teil veraltete Erziehungsmethoden, von denen nach aktuellen Erkenntnissen dringend abzuraten ist. Entscheiden sich Eltern bewusst für einen empathischeren Erziehungsstil – gehen sie also mehr auf ihr Kind ein, verhalten sie sich so, dass das Kind sich sicher gebunden fühlt – so ernten sie dafür von vielen Seiten Kopfschütteln oder gar gehässige Kommentare.

Ich finde es interessant zu beobachten, dass wissenschaftliche Errungenschaften in der Medizin offenbar von allen Volks- und Altersgruppen als Bereicherung angesehen werden, während die Akzeptanz von neuem pädagogischen oder entwicklungspsychologischen Wissen viele Jahrzehnte dauert.

Hat es uns wirklich nicht geschadet?

Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass es eine Bindung zwischen Kindern und ihren Eltern bzw. anderen Bezugspersonen gibt und dass diese Bindung maßgeblich für ihre Entwicklung und ihr soziales Verhalten ist; nicht nur in der Kindheit, sondern auch für weite Bereiche des späteren Lebens. Ein Kind lernt, sich auf Menschen zu verlassen oder sich eben nicht auf sie verlassen zu können. Es lernt, wie es mit Menschen umgeht die liebevoll sind, genauso wie es lernt mit jenen umzugehen, die nicht liebevoll sind.

Ein Baby, das noch keine Worte sprechen, das vielleicht sogar kaum welche verstehen kann, hat kein anderes Mittel als durch Weinen auszudrücken, dass es Hilfe braucht. Dabei ist es egal ob das, was seine Not auslöst Hunger, Angst, Alleine-sein, fehlender Körperkontakt, zu viel Raum oder ein verstärktes Saugbedürfnis ist. Da ist ein kleines Wesen, das keine Lebenserfahrung hat, das sich vollkommen auf seine Sinne und Instinkte verlassen muss und das auf das Wohlwollen derjenigen Menschen angewiesen ist, von denen es abhängig ist.

Einem Kind, dem in einer Situation in der es um Hilfe ruft geholfen wird, wird damit gleichzeitig gezeigt, dass es wichtig ist, dass es viel wert ist, dass seine Bedürfnisse ernst genommen werden. Kinder mit solchen Erfahrungen entwickeln Selbstwertgefühl, Stolz, Liebe, Feinfühligkeit anderen gegenüber, ebenso, wie Freude an Beziehungs-erfahrungen.

Ein Kind, das in einer Situation in der es um Hilfe ruft alleine gelassen wird lernt, dass es keinen Sinn hat zu weinen, dass niemand kommen wird der ihm hilft und dass seine Bedürfnisse für den anderen nicht zählen. Kinder, die diese Erfahrungen machen, fühlen sich psychisch alleine gelassen. Sie entwickeln Gefühle wie Zurückweisung, Trennung von der geliebten Person, Ärger und Trauer darüber, als auch Angst, Schuld, Neid, Eifersucht, bis hin zu tiefer Verzweiflung. Sie erleben das nicht nur einmal, sie erleben das immer wieder. Zumindest so oft, bis sie gelernt haben, dass sie nicht zu weinen, zu quengeln oder zu schreien haben. Diese Gefühle manifestieren sich und prägen daher ihre zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nur zu den eigenen Eltern, sondern möglicherweise in weiterer Folge auch viele andere im Laufe ihres Lebens.

Mögliche Folgen einer nicht sicher geglückten Bindung in der Kindheit können eine Angst vor Bindung, Nähe und Enttäuschung im Erwachsenenalter sein. Eine zu starke Anpassung oder ein zwanghaftes Bemühen es jedem recht zu machen, oder auch Verhaltensstörungen bis hin zu psychischen Krankheiten können daraus resultieren.

Und jetzt stelle ich meine Frage noch einmal: „HAT ES UNS WIRKLICH NICHT GESCHADET?“

Autorin: Simone Kostka-Krytinar, BA