UngeboreneEIN UNBESCHRIEBENES BLATT?

„Im Uterus, in dem Universum, wo alles beginnt und aufgebaut wird, wohnt jenes Geschöpf, das uns erzieht, indem es uns seine vielfältigen Bedürfnisse offenbart… (Wir müssen) immer mehr von den Botschaften lernen, die uns der Embryo sendet, den Fötus zu prägen, der wiederum den Menschen in seiner Totalität bestimmt. Dadurch werden wir in den Besitz wahren Reichtums gelangen, eines Reichtums, der von Bedürfnissen befreit“
Alfred A. Tomatis: Klang des Lebens.

In den siebziger Jahren schrieb Frédérick -Leboyer sein Buch „Der sanfte Weg ins Leben“, in dem er auf poetische Weise dem gerade geborenen Kind Empfindungen zuschrieb und setzte damit ein Umdenken in der Behandlung von Neugeborenen nach der Geburt in Gang.

Doch nach wie vor werden Ungeborene in ihrem großen Spektrum an Empfindungen unterschätzt und gelten als empfindungs-lose Wesen, die erst nach der Geburt beseelt werden. 

Wenn wir uns jedoch den neueren Forschungen aus den Bereichen Psychologie, Neurobiologie und Medizin zuwenden, erkennen wir, dass Neugeborene bereits einen großen Schatz an Sinnesempfindungen und Gefühlen mitbringen.

Wie der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther schreibt: „Wer begreift, was für einen komplizierten Weg ein Kind bereits hinter sich hat, wenn es auf die Welt kommt, für den wird das Geheimnis der Schwangerschaft nur noch bewundernswerter und kostbarer.“

Die Neurobiologie zeigt uns, dass Zellen, sobald sie existieren – wahrnehmen und miteinander kommunizieren.

Besonders die Entwicklung der Sinne des Ungeborenen beginnt schon ab der ganz frühen Schwangerschaft und gibt ihm die Möglichkeit seine Umgebung wahrzunehmen und darauf zu reagieren.

So weiß man, dass Ungeborene auf Untersuchungen reagieren: z.B. bei einer Fruchtwasserpunktion, versuchen die Ungeborenen der Nadel auszuweichen.

Der Tastsinn liefert ab der 7. Woche erste Hautempfindungen.

Der Hörsinn wird ab der 8. Woche angelegt – und schon ab der 20. Woche kann das Ungeborene die Stimme von Mutter und Vater erkennen.

Der Geschmackssinn entwickeln sich zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche, so zeigen Ungeborene Reaktionen auf den Geschmack des Fruchtwassers.

Über den Herzschlag der Mutter und deren Hormonausschüttung ist das Ungeborene in Resonanz mit der Mutter. Es erkennt durch die Charakteristik des mütterlichen Herzschlages, ob alles in Ordnung ist. Wenn die Mutter glücklich ist, werden -Glückshormone – -Endorphine ausgeschüttet. Bei Stress werden auch Stresshormone wie Cortisol und -Adrenalin an das Baby weitergegeben.

Ungeborene sammeln so Erfahrungen über die Beschaffenheit ihrer intrauterinen Lebenswelt und verankern diese in ihrem Gehirn in Form bestimmter Verschaltungsmuster.

Das Baby fühlt, erlebt, ist in Beziehung zu seinem Umfeld und nutzt diese Erfahrungen um zu lernen.

Die Gebärmutter mit dem Ungeborenen ist Teil des gesamten Systems Mutter – sei sie glücklich, traurig, gesund oder krank und nimmt Anteil an ihrer persönlichen -Beziehungs- und Familiengeschichte.

Die Ungeborenen erleben in abgeschwächter Form die Erlebnisse der Mütter mit, diese werden dann für sie zu einer Art Orientierungs-karte der Welt.

Wir leben nicht in einer perfekten Welt

Manche Schwangerschaften beginnen mit Hindernissen und sehr ambivalenten Gefühlen, ob dieses Kind willkommen ist. Andere mussten mühsame Wege nehmen, um schwanger zu werden oder hatten vorher schon Fehlgeburten. Ängste sind vorhanden, ob dieses Kind nun bleibt. Viele Schwangere werden verunsichert durch einen unsensiblen Umgang mit ihrer Schwangerschaft von Seiten der Medizin. Auch mangelnde Unterstützung der Familie/Umgebung ist leider keine Seltenheit.

Die meisten Schwangeren möchten alles richtig und gut machen und fühlen sich schlecht, wenn dies schicksalhaft nicht gelingt. Ausschlaggebend scheint nicht zu sein, eine perfekte Schwangerschaft/Welt zu erleben, sondern vielmehr das Ungeborene als eigenes beseeltes und empfindendes Wesen wahrzunehmen und eine Ebene der Kommunikation mit ihm zu finden.

Wie können wir mit dem Ungeborenen in eine gelebte Kommunikation treten?

Wie in jeder guten Beziehung: sprechen Sie mit Ihrem ungeborenen Baby. Nehmen Sie sich täglich Zeit, um mit ihm zu reden. Erklären Sie Ihre Zuneigung, auch wenn die Zeiten mal schwierig sind.

Laden Sie auch Ihren Partner ein mit dem Ungeborenen zu sprechen.

Singen Sie ein schönes Schlaflied. Ihr Kind wird sich nach der Geburt an die schöne Zeit mit Ihnen in Ihrem Bauch erinnern.

Suchen Sie sich gute professionelle Begleiter für Ihren Weg. Gute Hebammen, ÄrztInnen und andere professionelle BeraterInnen wie PsychologInnen und TherapeutInnen können Sie dabei unterstützen.

Als eine der möglichen neueren Methoden sei hier die Bindungsanalyse genannt. „Nabelschnur der Seele“ nannte der Psychologe und Psychoanalytiker Jenö Raffai diesen Weg, dass Schwangere über innere Dialoge, Bilder und Empfindungen mit dem Kind kommunizieren. Mit der Unterstützung durch eine/n BindungsanalytikerIn können dann eigene negative und schmerzliche lebensgeschichtliche Erfahrungen integriert werden. Und besonders in schwierigen Zeiten kann diese Differenzierung zwischen Mutter und Kind, das als eigenes Wesen wahrgenommen wird, eine große Entlastung und eine große Freude für Mutter und Kind bedeuten.

Autorin: Claudia Schachner